Vergütungssituation in der Physiotherapie – eine Bestandsaufnahme, Ziele von PHYSIO-DEUTSCHLAND und ein Ausblick auf das Jahr 2022!
Nach den Vergütungsverhandlungen ist vor den Vergütungsverhandlungen. Dieser Satz ist Programm und Auftrag zugleich für PHYSIO-DEUTSCHLAND. Die Vergütungsvereinbarung mit den gesetzlichen Krankenkassen gilt seit dem 01. August 2021 und hat eine Mindestlaufzeit bis 31. Juli 2022. Ab dem 01. August 2022 könnte es somit eine neue Anlage 2 „Vergütungsvereinbarung“ zum Bundesrahmenvertrag geben. Im Interview sprechen wir mit Andrea Rädlein, Vorsitzende von PHYSIO-DEUTSCHLAND, über den aktuellen Stand bei den physiotherapeutischen Vergütungen, über die Ziele von PHYSIO-DEUTSCHLAND und die nächsten Schritte zum Thema Vergütung in den kommenden Monaten.
Liebe Andrea Rädlein, die Vergütung der physiotherapeutischen Leistungen ist das zentrale Thema für viele Kolleginnen und Kollegen in der ambulanten physiotherapeutischen Versorgung. Bist Du zufrieden mit den Entwicklungen?
Ja und nein! Wir konnten in den letzten Jahren bundesweit deutliche Vergütungssteigerungen gegenüber den Kostenträgern durchsetzen. Steigerungen, die längst überfällig waren. Das ist gut, aber Löhne in Anlehnung an den TVöD und eine wirtschaftliche Praxisführung sind mit den aktuellen Vergütungen noch immer nicht möglich. Deshalb hat das Thema Vergütung für uns weiter höchste Priorität.
Wie schlagen sich die Umsatzsteigerungen in den ambulanten Praxen nieder?
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Zahlen, die das Bundesministerium für Gesundheit und andere veröffentlichen. In den Jahren 2017 bis 2020 sind laut Ministerium die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Physiotherapie insgesamt um 30,6 Prozent auf 6,15 Milliarden Euro gestiegen. Das waren im Jahr 2020 gerade knapp 2,4 Prozent der Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung, die bei mehr als 260 Milliarden Euro lagen.
Wir wissen, dass Physiotherapiepraxen durchschnittlich 70 Prozent ihrer Umsätze mit Leistungen für gesetzlich Versicherte erwirtschaften. Berücksichtigt man die sonstigen Umsätze, liegt die Gesamtsteigerung der Praxiseinnahmen im Zeitraum 2017 – 2020 bei etwas mehr als 21 Prozent.
Ist damit das Ziel des Gesetzgebers erreicht, durch höhere Vergütungen dem Fachkräftemangel in der Physiotherapie entgegenzuwirken?
Der Einstieg in die finanzielle Aufwertung der physiotherapeutischen Leistungen und damit in unseren Beruf ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber mehr bislang auch nicht. Hier müssen weitere Etappenziele erreicht werden, damit unser Beruf finanziell attraktiver für junge Menschen, aber auch für alle heutigen Berufsangehörigen, wird.
Wir beobachten sehr genau die Entwicklungen der Zahlen der Berufsgenossenschaft für Gesundheits- und Wohlfahrtspflege (BGW). Sie bilden nämlich die Gehaltszahlungen in den ambulanten Praxen ab. In den Jahren 2017 bis 2020 ist es in den Praxen laut BGW zu Gehaltssteigerungen von 22,4 Prozent gekommen. Diesen Trend werten wir als positiv für unsere Branche – vor allem, wenn wir diese Zahl mit der Umsatzsteigerung von gut 21 Prozent in den Praxen vergleichen. Die Zahlen beweisen, dass die Praxisinhaberinnen und Praxisinhaber sehr verantwortungsvoll mit den Erhöhungen umgegangen sind und dem Wunsch des Gesetzgebers, die Gehälter der Angestellten zu erhöhen, nachkommen. Das ist ein wichtiges Signal auch für zukünftige Verhandlungen und Gespräche mit der Politik!
Wie sehen die Kostenträger die Entwicklungen?
Die Kostenträger sehen die Wirtschaftlichkeit in den Praxen als gegeben an; auch bei den Gehältern sehen sie im Kern keinen weiteren Handlungsbedarf. Sie behaupten außerdem, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber würden die Umsatzsteigerungen nicht an ihre Mitarbeitenden weitergeben. Dem ist nicht so, wie die Zahlen zeigen.
Fakt ist: Die aktuellen Vergütungserhöhungen basieren auf einem Schiedsspruch und nicht auf einem Verhandlungsergebnis der Vertragspartner. Wir haben gegen Teile des Schiedsspruchs gemeinsam mit den weiteren maßgeblichen Physiotherapieverbänden Klage eingereicht. Damit bringen wir zum Ausdruck, dass wir die durch die Schiedsstelle festgesetzten Vergütungen weder als leistungsgerecht, noch als wirtschaftlich ansehen, so wie es der Gesetzgeber im Terminservice- und Versorgungsgesetz gefordert hat.
Was bedeutet das für zukünftige Verhandlungsrunden?
Die andere Seite des Verhandlungstisches geht aus unserer Sicht noch immer von falschen Ausgangsvoraussetzungen aus, was die Voraussetzungen für die Wirtschaftlichkeit in den Praxen angeht. Hier verschiedene Beispiele: Zum einen unterstellen die Krankenkassen, dass es den Praxisinhaberinnen und Praxisinhabern längst möglich sei, Gehälter in Höhe des Tarifs im Öffentlichen Dienst zu bezahlen. Das ist aber ein Irrglaube. Außerdem legen die Krankenkassen eine zu hohe durchschnittliche Zahl an therapeutischen Vollzeitkräften pro Praxis zugrunde und man kalkuliert mit einer 100-Prozent-Auslastung unserer Praxen, d.h. jeder Therapeut erwirtschaftet in jeder Minute Arbeitszeit Umsatz. Das entspricht aber nicht der Realität und führt zu falschen Annahmen zur Höhe der Umsätze, die in den Praxen erzielt werden. Wir werden nicht lockerlassen, die Kriterien für die Wirtschaftlichkeit einer Praxis auf belastbare Fakten aufzubauen.
Welchen Gegenwind gibt es von den Kassen?
Die gesetzlichen Krankenkassen sehen uns offensichtlich leider nur als Kostenfaktor und reduzieren unsere Leistungen auf die Ausgaben und nicht auf den Nutzen der Therapie für die Patientinnen und Patienten. Das zeigen die Äußerungen der Barmer im Heil- und Hilfsmittelreport und der aktuelle Bericht des wissenschaftlichen Instituts der AOK. Mit Schlagzeilen wie beispielsweise „Weniger Behandlungen, aber höhere Umsätze im Pandemiejahr“ oder „Geld kommt nicht ausreichend bei den Physiotherapeuten an“ ist die Marschrichtung der Kassen in der Öffentlichkeit klar. Hier geht es nur um Kosten und nicht um eine bedarfsgerechte Versorgung ihrer Versicherten oder gar die Aufwertung der Therapieberufe. Aber gerade diese Aufwertung der Physiotherapie ist ein wichtiger Baustein unserer berufspolitischen Arbeit gegenüber der Politik und 2022 auch wieder verstärkt in der allgemeinen Öffentlichkeitsarbeit.
Wie geht es in Sachen Vergütung im Jahr 2022 weiter?
Die genauen Ziele und die dazugehörige Strategie sprechen wir vorab mit den drei weiteren maßgeblichen Verbänden in der Physiotherapie ab. Für uns steht aber fest, dass die Basis für eine wirtschaftliche Praxisführung noch nicht – wie vom Gesetzgeber gefordert – erreicht ist. Das gleiche gilt für angemessene Gehälter in der ambulanten Versorgung. Dementsprechend werden unsere Forderungen ausfallen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Ute Merz.
Über Andrea Rädlein:
Andrea Rädlein ist seit 2014 Vorsitzende von PHYSIO-DEUTSCHLAND. Als Vorsitzende ist sie Mitglied in der Großen und Kleinen Verhandlungskommission von PHYSIO-DEUTSCHLAND. Andrea Rädlein ist Verhandlungsführerin von PHYSIO-DEUTSCHLAND bei den Verhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband. Gemeinsam mit den weiteren maßgeblichen Physiotherapieverbänden vereinbart sie die Verhandlungsstrategie. Seit 2005 ist sie Geschäftsführerin des RTZ (Regionalen Therapie-Zentrum GmbH) in Wuppertal mit insgesamt 142 Mitarbeitenden.
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